Deutschland gilt gemeinhin als das europäische Land, in dem Prostitution am weitesten verbreitet ist. Doch wie viel Wahrheit steckt hinter dieser landläufigen Annahme? Wie viele Sexarbeiter gibt es tatsächlich in Deutschland? Eine neue Studie bringt Licht ins Dunkel.
Deutlich weniger Prostituierte in Deutschland als gedacht
Bisherige Schätzungen über die Zahl der Männer und Frauen, die in Deutschland mit Sexarbeit ihr Geld verdienen, beliefen sich meist auf 200.000 bis 400.000. Diese doch recht große Spanne ist mutmaßlich auf Angaben zurückzuführen, die auf einer Tagung des Sozialdienstes katholischer Frauen und der Katholischen Sozialethischen Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz in den 1980er-Jahren getätigt und später von den Medien zitiert wurden. Dass es sich dabei um eine realistische Einschätzung handelt, ist jedoch stets von vielen bezweifelt worden.
Nachdem die Prostituierten-Organisation Doña Carmen bereits 2020 vor Beginn der Covid19-Pandemie den Versuch unternommen hat, die Zahl der Sexarbeiter realistisch zu ermitteln, folgte nun – rund drei Jahre später – eine Post-Covid-Studie des Erotikportals Erobella.com. Ergebnis: In Deutschland verdienen lediglich 88.800 Menschen mit Sexarbeit ihr Geld, also deutlich weniger, als anhand der vorherigen Schätzungen vermutet wurde.
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Unter den Sexarbeitern gibt es eine hohe Dunkelziffer
Erobella gelang es damit, die Erhebung von Doña Carmen zu bestätigen, die zuvor mit 90.000 Sexarbeitern auf ein sehr ähnliches Ergebnis kam. Insgesamt liegt die tatsächliche Zahl der Sexarbeiter also rund 65 % unter dem, was vorherige Schätzungen ausgewiesen hatten.
Das Online-Portal für Sex-Anzeigen ist bei der Untersuchung wie folgt vorgegangen: Man hat die offiziellen und geschätzten Zahlen der Sexarbeiter in den zwanzig größten deutschen Städten mit den Zahlen der vergangenen Jahre verglichen. Als Ergebnis erhielt man einen Koeffizienten von 3,14, woraus sich dann die Gesamtzahl von 88.800 Sexarbeitern in 2023 errechnen ließ. Zudem folgte aus den Berechnungen, dass es eine vermutete Dunkelziffer von 60.520 Sexarbeitern gibt.
Deutschland als „Bordell Europas”? Neue Sexarbeiter-Zahlen werfen Zweifel auf
Welche Auswirkungen könnte die Erobella-Studie nun aber für die Bewertung von Sexarbeit in Deutschland haben?
Bereits seit längerem diskutieren Politiker die Einführung des Nordischen Modells, das den Kauf sexueller Dienstleistungen unter Strafe stellt, nicht aber die Sexarbeit selbst. Dennoch würde ein solches Modell legale Prostitution hierzulande nahezu unmöglich machen.
Die neuen Daten über die Gesamtzahl der Sexarbeiter könnten die Politiker nun aber zum Umdenken bewegen. Schließlich berief sich Unionsfraktionsvize Dorothee Bär während einer Rede, in der sie Deutschland als „Bordell Europas” bezeichnete, noch auf rund 250.000 Sexarbeiter, was jedoch – wie die Erobella-Studie zeigt – weit von der Realität entfernt ist.
Mit den Kenntnissen dieser Untersuchung könnten die Entscheider also zu der Einsicht gelangen, dass die Einführung eines Nordischen Modells nicht notwendig ist. Ola Miedzynska, Mitbegründerin von Erobella, plädiert stattdessen für mehr gesellschaftliche Aufklärung. Sie sagt: „Wir müssen der Realität ins Auge sehen: Die realen Zahlen zeigen, dass Sexarbeit in Deutschland nicht das monströse Bild ist, das oft gezeichnet wird. Statt Stigmatisierung und Übertreibung braucht die Branche Aufklärung und Unterstützung. Nur mit einem realistischen Blick können wir die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeitern nachhaltig verbessern.”